BLIND-RUNNING-GUIDE – WENN SICH EIN LAUFTANDEM 100% BLIND VERSTEHT, LÄUFT INKLUSION

Ich trete auf den Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs und blinzele in die knallige Morgensonne. Voller Vorfreude auf den Sightrunning-Trip durch die Hauptstadt schultere ich meinen kleinen Laufrucksack. Doch es geht jetzt weder zum Brandenburger Tor noch zum Potsdamer Platz. Heute laufe ich nach Karow im Bezirk Pankow. Dort hat der Sporttreff Karower Dachse e.V. zur Lauftandem-Schulung eingeladen. Mein Ziel ist Inklusion auch im Laufsport zu leben, und heute möchte ich lernen, wie man einen blinden Menschen beim Laufen sicher führt. Wie funktioniert so ein Lauftandem, und wie werde ich ein Blind-Running-Guide?

Blind-Running-Guide – mein Weg nach Berlin Pankow

Also trabe ich am heißen 22.06.2019 in den Berliner Norden – entlang des Mauerparks, durch Heinersdorf und Blankenburg, vorbei an Kleingartenvereinen, Wildblumenwiesen und Kornfeldern. Wie grün Berlin ist, fällt mir im Laufschritt auf. Nach 15 Kilometern abseits der klassischen Touristenpfade stoppe ich vor der Grundschule am Hohen Feld.

Bis zum Start des Blind-Running-Guide Seminars bleibt noch ein bisschen Zeit. Ich setze mich zu zwei anderen Läufern in den Schatten eines Baumes. Das Pärchen wird auch teilnehmen und ist mit dem Auto aus Leipzig angereist. Meine Vermutung, als Hamburgerin vielleicht die einzige Ortsfremde zu sein, ist somit direkt widerlegt. Nach und nach gesellen sich andere Teilnehmer zu uns unter den Baum. Jede*r hat eine vage Vermutung, was uns heute erwartet, aber nicht so genau.

Blind-Running-Guide – Vorstellung der Laufbegeisterten

Pünktlich um 13 Uhr betreten wir das Klassenzimmer. Gefühlt herrschen 30 Grad, trotz Durchzugs.
Zu acht verteilen wir uns auf zwei Stuhlreihen und blicken der Vereinsvorsitzenden und unserer heutigen Trainerin Kirsten Ulrich und ihrer Laufpartnerin Constanze Thoms gespannt in die Augen. Constanze ist Physiotherapeutin und seit ihrem 6. Lebensjahr sehbehindert. Sie hat die Läuferin Kirsten in ihrer Praxis kennengelernt und nach ein paar Behandlungsterminen den Wunsch geäußert, auch gern einmal Laufen zu gehen. Gesagt, getan. Das Lauftandem war geboren.

Während einer kurzen Vorstellungsrunde stellt sich heraus, dass tatsächlich nur zwei der acht Teilnehmer aus Berlin kommen. Wir sind alle irgendwie über die Google-Suche auf diese Laufbegleiter Schulung aufmerksam geworden. “…die einzige Blind-Running-Guide Ausbildung, die ich in Deutschland gefunden habe.” sagt jemand. In der Tat ist der Verein mit dieser Initiative bisher deutschlandweit einzigartig. Flugbegleiter-Ausbildungen sind leichter zu finden… 😉

Blind-Running-Guide – meine Motivation

Ich erzähle, wie ich vor Allem inspiriert bin durch meinen ASICS FrontRunner Teamkameraden Max Kirschbaum, der die Rolle des Guiderunners für den Sehbehinderten Tien-Fung Yap übernimmt und mit ihm nun schon zweimal am World Para Athletics Marathon World Cup in London teilgenommen hat. Die beiden sind ein eingespieltes Lauftandem und leben Inklusion auf ganz hohem Leistungsniveau.

Nicht alle Anwesenden sind ambitionierte Athleten, doch zumindest hat jede*r schon einmal an einem Volkslauf teilgenommen und vor Allem Spaß an diesem Sport. Und darum geht’s. Was uns alle hier zusammengebracht hat: Wir möchten interessierten Menschen mit Sehbeeinträchtigungen die Teilnahme und Freude am Laufsport ermöglichen und Laufbegleiter sein.

Blind-Running-Guide – Fakten

Nach Schätzungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (DBSV) leben in Deutschland etwa 150.000 blinde Menschen und ca. 500.000 Sehbehinderte. Laut WHO sind es weit über 1 Million, doch empirisch erhobenes Zahlenmaterial gibt es nicht. Meist sind Sehbehinderungen durch Augenkrankheiten bedingt, die mit verschiedenen Symptomen und ganz unterschiedlichen Einschränkungen einhergehen. Constanze sagt, dass die Auswirkungen oft variieren, auch nach persönlicher Tagesform der betroffenen Personen. Sie hat heute einen guten Tag und strahlt mit ihrem Sohn um die Wette. Ohne Laufbegleiter wäre sie auf das Laufband zu Hause oder im Fitnessstudio angewiesen. “Manche wären schon froh, würden sie Begleitung zum Walken im Freien finden.”

Im Theorie-Teil werden wir auf die Besonderheiten des begleitenden Laufens, vor Allem die Notwendigkeit eindeutiger Kommandos des Blind-Running-Guides, hingewiesen. Im Anschluss geht es an die Selbsterfahrung – raus auf den Sportplatz, wo wir mit theoretischen und praktischen Übungen sensibilisiert und geschult werden.

Blind-Running-Guide – Augenerkrankungen selbst erleben

Draußen. Kirsten Ulrich öffnet einen schwarzen Koffer. Simulationsbrillen sollen die sechs häufigsten Augenerkrankungen für uns nachvollziehbar machen: Altersabhängige Makula-Degeneration, Diabetische Retinopathie, Grauer Star, Grüner Star, Netzhautablösung, Retinitis Pigmentosa… Bis auf die zwei Stare kannte ich keine. Vor Allem hatte ich keine Ahnung, welche Beeinträchtigungen mit ihnen verbunden sind.
Mit dem Grauen Star auf der Nase stakse ich, Augenlinse getrübt, langsam allein ein paar Schritte umher. Verwischte Konturen. Farben ohne Leuchtkraft. Der Seheindruck gleicht dem Blick durch eine Milchglasscheibe. Ich drehe und wende meinen Kopf und möchte mir die Brille am liebsten direkt wieder von der Nase ziehen. Dasselbe Verlangen habe ich auch bei den fünf weiteren Gläsern. Dann wird’s komplett dunkel: Jedem von uns wird eine schwarze Schlafbrille gereicht. Dazu bekommen wir einen Blindenstock – für mehr Sicherheit und Selbständigkeit…

Uuuund los! Ich schwinge und schleife den Stab unrhythmisch am Boden hin und her, während ich mich in Babyschritten vorwärts bewege. Mit der freien Hand mache ich ähnliche Pendelbewegungen vor meinem Körper, voller Angst irgendwo gegen zu “rennen”. Haha. Von wegen. Rennen/Laufen? Ich traue mich nicht.

Blind-Running-Guide – erste Testläufe

Gehhilfe hin oder her, mein räumliches Orientierungsvermögen ist nicht nur stark eingeschränkt sondern so gut wie futsch. Ich fühle mich relativ hilfsbedürftig. Kirsten Ulrich ruft uns zu sich. Blind sollen wir uns nur an dem akustischen Signal ihrer Stimme orientieren. Es hat was von “The Walking Dead”, wie wir über den Schulhof wanken, und so dauert's ein bisschen, bis alle beisammen sind…

Endlich kommen wir partnerweise zusammen. Lena wird mein erster Laufbegleiter und Blind-Running-Guide. Wir bekommen als Lauftandem einen bunten, etwa 20cm langen Schnürsenkel ausgehändigt – das Führungsband, das den blinden Läufer mit dem sehenden Begleitläufer verbindet. Kurz darauf windet es sich in Schlaufen um Lenas und mein Handgelenk und zwischen unseren Fingern. Handrücken an Handrücken marschieren wir los. Lena geht links von mir, damit ich mich als Rechtshänderin im Fall eines Falls besser abfangen kann. Ihre Hand ist mir auf Anhieb wesentlich lieber als der Stock. 
Wir bewegen uns mitten auf dem Basketballplatz. Seeehr laaangsam. Der Gummibodenbelag federt leicht unter meinen Füßen. 

Von den anderen bekomme ich nichts mit, aber vermutlich bin ich die einzige, die jeden Schritt mit “Oh, mein Gott! / Schön vorsichtig! / Bitte nicht gegen einen Baum! / Da kommt doch gleich ein Zaun, oder? / Du passt auf, ja?!” kommentiert. Lena ist ein sehr umsichtiger Blind-Running-Guide und plappert in einer Tour, wie/wo/was gerade um uns herum passiert. Nach einer Weile fangen wir an zu trippeln, und dann macht unser Lauftandem sowas wie Laufschritte… 

Ok, ich geb's zu. Ich schummele. “Zufällig” ist meine Schlafbrille etwas nach oben gerutscht – ein kleiner Lichtspalt. Durch den schmalen Sichtbereich unter meiner Nase kann ich auf meine Füße schielen. Das lässt mich etwas mutiger werden. Trotzdem bin ich gehindert, mich voll auf Laufbegleiter Lena und die Situation einzulassen. Als wir die Seiten wechseln, fühle ich mich feige. Chance vertan.

Blind-Running-Guide – Teamwork im Lauftandem

Nun bin ich “Lenas Augen”. Sie ist Linkshänderin, daher müssen wir das Führungsband nicht ändern. Als wir gemütlich über den Basketballplatz schlendern und unsere Arme nebeneinander baumeln, fühle ich mich stark, wie ihr Bodyguard. Wir wechseln in einen langsamen Laufschritt. Wie aufregend! Ich bin ständig auf der Hut. Bloß nichts übersehen, bloß keinen Fehler machen. Klare Kommandos. Ich schaue voraus und immer wieder auf ihre Füße, darauf bedacht, mich ihrer Schrittlänge anzupassen und entsprechend gleichmäßig die Arme zu schwingen. “Breiter denken” sage ich mir immer wieder – schließlich müssen wir beide im Lauftandem um die enge Kurve und nebeneinander durch das Tor passen. Alles läuft gut. Ich bin froh und unfassbar dankbar, gucken zu können. 

Blind-Running-Guide – Lauftandem Partnerwechsel

Als nächstes führe ich unseren ältesten Teilnehmer Klaus. Klaus hat klare Vorstellungen, wie er geführt werden möchte und sagt, was für ihn wichtig ist. Führungsleine so eng wie möglich. Körperkontakt unbedingt erwünscht. Gern mit ein bisschen Ellenbogen. Er fragt mich, mit welchem Bein ich starte, dann laufen wir direkt los. Die Arme zunächst stark angewinkelt, fast verkrampft, erfordert es ein paar vertrauensvolle Schritte und einige tiefe Atemzüge bis sie locker und einheitlich schwingen. Doch dann trauen wir uns was. Die Tartanbahn haben wir längst verlassen, drei Treppenstufen überwunden, und nun geht’s im Passschritt durch Gras. Ich gebe mir Mühe, jede Bodenwelle zu erahnen und anzukündigen und fühle mich großartig, wie ich meinen Lauftandem Partner Klaus in Schlangenlinien um die Bäume lotse. Tschakka! Er grinst und lässt sich vertrauensvoll führen.

Zwischenfazit: Als Blind-Running-Guide ist es wichtig,

  • die eigenen Interessen bzgl. Geschwindigkeit, Strecke etc. zurückzustecken und
  • auf individuelle Probleme des zu begleitenden Athleten einzugehen.

Blind-Running-Guide – Aufmerksamkeit und Feingefühl

Zuvor hat uns Kirsten Ulrich erklärt, dass es vorteilhaft ist (besonders bei der Teilnahme an einem Wettkampf), wenn der Guide etwa 10% schneller laufen kann als der Geführte. Der Laufbegleiter muss für beide schauen, auf die Bedürfnisse seines Schützlings eingehen, lotsen, antizipieren… auf ihn muss Verlass sein. Auch mobile Hindernisse (wie z.B. Tiere, herannahende Menschen oder Verkehrsmittel) sollten zumindest angesagt werden, damit sich der/die Blinde darauf einstellen kann, dass möglicherweise spontan reagiert werden muss (“Hund in Sicht”, “Hund vorbei”).

Ich bin super stolz auf mich, als ich Klaus gekonnt unter den Blättern eines Baums hindurchlotse, ohne dass sie ihn streifen. Ja, es sind nicht nur die Bodenbeschaffenheiten zu beachten, auch Äste oder Zweige, also Hindernisse von oben oder von der Seite. Ich frage Klaus, ob er Lust hat, über den Spielplatz zu laufen. Na klar! Mein Hirn checkt gerade, ob wir besser links oder doch lieber rechts an der Wippe vorbeilaufen – da liegt Klaus plötzlich im Sand. Naja, nicht ganz. Ich fange ihn auf halbem Weg nach unten ab und kann ihn im letzten Moment mit meinen Armen auffangen. S***, das Buddel-Loch im Sandkasten habe ich völlig übersehen. Klaus lacht und findet das offensichtlich überhaupt nicht schlimm, aber mir ist der Fauxpas extrem peinlich. Wir lassen die Wippe links liegen und laufen runter vom Sand.

Blind-Running-Guide – die Sicherheit kommt mit der Zeit

Jetzt muss ich wieder blind sein. Diesmal verbiete ich mir das Mogeln. Augen zu und durch! Noch weiß ich, wo wir sind. Mitten auf dem Trainingsplatz. Das gibt mir Sicherheit, was ich meinem Lauftandem Partner gegenüber erwähne. Er hält daraufhin an und dreht mich siebenmal im Kreis. Du A…!! 😉 Ok, Challenge accepted. Wir traben langsam in irgendeine Richtung. Mein Adrenalin strömt. Doch schnell werden unsere Schritte synchron und wir bewegen uns ganz locker wie ein vierbeiniges Wesen fort. Crazy!! 

Bordstein hinauf. Bordstein hinunter. Unerwartet spüre ich plötzlich Kälte um mich herum. Wir laufen im Schatten unter einer Überdachung. Hier bin ich vorhin schon gewesen, habe den Temperaturunterschied sehend aber gar nicht wirklich wahrgenommen. Die Erfahrung ist sehr intensiv. Die Sicherheit aller Tandems wächst mit jedem Partnerwechsel, und als mein letzter “blinder” Partner sich am Ende sogar traut, Vollgas mit mir über die 100 Meter Bahn zu sprinten, fangen wir beide vor Freude an zu kreischen.

Blind-Running-Guide – meine Lauftandem Learnings

Auf der Rückfahrt nach Hamburg am Abend denke ich noch lange über die vergangenen Stunden nach. Was habe ich gelernt?

Die Anforderungen an einen sehenden Blind-Running-Guide:

  • ein aufeinander abgestimmtes Bewegungsverhalten herzustellen,
  • Laufrichtungswechsel, Änderung der Bodenbeschaffenheit sowie Hindernisse zu antizipieren,
  • rechtzeitig und deutlich die entsprechenden verbalen und taktilen Signale zu geben und
  • das erweiterte Umfeld im Blick zu behalten

Auch nicht-sehende Lauftandem-Partner*innen tragen Verantwortung:

  • den erhaltenen Anweisungen blind zu vertrauen,
  • sie bestmöglich umzusetzen und
  • sich aus der anfänglichen Unsicherheit und Verkrampfung heraus frei zu laufen.

Es war lehrreich und auch sehr berührend, die Ausbildung zum Blind-Running-Guide gemacht zu haben. Die Einblicke in ein Leben mit Sehbehinderung und die Selbsterfahrung haben meine Wahrnehmung intensiviert und auch meine Hochachtung vor der Art und Weise, wie Menschen mit Blindheit ihren Alltag meistern. Ich bin darüber sehr dankbar. Es braucht Zeit und einen vertrauensvollen Umgang, ein eingespieltes Lauftandem zu werden. Schreckt nicht vor der Verantwortung zurück, probiert es aus! Wir können viel voneinander lernen und Spaß daran haben, miteinander zu trainieren.

Vielen Dank an das Team der Karower Dachse für die Lauftandem Begleiterschulung und für die Fotos.

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