LAUF ABC – D WIE DISTANZ

Wir alle beschäftigen uns als Läufer*innen ständig mit Distanz, auf die ein oder andere Art und Weise. Wir vermessen unseren Sport in Metern und Kilometern. Distanz ist ein Wort, das in unserem Sprachgebrauch allgegenwärtig ist. Lassen Sie uns doch mal genauer hinschauen. Welche weiteren Bedeutungsebenen hat das Wort noch? Wir sind keine Germanisten oder Philosophen, aber wir wollen trotzdem versuchen, das Wort „Distanz“ zu durchleuchten und von allen Seiten zu betrachten. 

Born to run

Lang ist’s her, am Anfang unseres Läuferlebens: Aus Liegen wurde Rollen, aus Rollen Robben, aus Robben Krabbeln, und schließlich war es soweit. Wir schafften es, ohne rettende Hand von den Eltern aufzustehen und unsere ersten Schritte zu unternehmen. Noch wackelig auf den Beinen suchten wir uns dafür gern erst einmal kurze Strecken, zum Beispiel vom Tisch in Mamas Arme – voller Entdeckerfreude und glucksend vor Glück. Schritt für Schritt vergrößerten wir unsere Reichweite. Der Abnabelungsprozess begann, wir wurden flügge, entdeckten neue Orte und gewannen Unabhängigkeit. Ein Interesse an Distanzen war geboren.

Für unsere Fortbewegung im aufrechten Gang verfügen wir Menschen über eine perfektionierte Biomechanik, und es ist unbestritten, dass dieser Bewegungsapparat für ein gesundes Leben auch gefordert werden muss. Läufer*innen wissen das. Jede*r von uns hat eine ganz individuelle Beziehung zum Laufen entwickelt. Während wir uns auf den verschiedensten Distanzen bewegen, hat jede Strecke unterschiedliche Schwierigkeiten und Anforderungen.

Lauf ABC – D wie Distanz: Welche Distanz hat welche Bedeutung?

Diese Frage ist beim Laufen schon fast philosophisch. Schauen wir uns doch mal ein paar näher an:

Sprint

0-400 Meter, bin ich damit schon Läufer*in? Na klar! Was wäre sonst die lebende Legende Usain Bolt? Der achtfache Olympiasieger, elffache Weltmeister und Weltrekordhalter in der 4×100-Meter-Staffel, im 100- und im 200-Meter-Lauf wurde mehrmals zum Leichtathleten und Weltsportler des Jahres gekürt. Alle Läufe bis zu 400 Meter Laufstrecke fallen in der Leichtathletik in die Kategorie Sprint. Rennen am Geschwindigkeitslimit, an Luftholen ist kaum zu denken. Auch wir anderen, die die 100 Meter nicht wie Bolt in unter 9,6 Sekunden abspulen, können kurze Distanzen nutzen, zum Beispiel als Belastungsabschnitte beim Intervalltraining, um unsere Grundschnelligkeit zu verbessern.

Mittelstrecke

Alle Distanzen zwischen 800 und 1.609 Metern, was einer englischen Meile entspricht, gelten als Mittelstrecke. Am Schnittpunkt von Ausdauer und Schnelligkeit ist hier die Krafteinteilung sehr wichtig und Tempohärte die leistungsbestimmende Komponente der Athlet*innen. Für alle Täglichläufer*innen, die ihren “Streak” nicht abreißen lassen wollen, ist eine Meile das Maß aller Dinge.

Langstreckenlauf

Alles über 2.000 Meter bis zum Marathon wird als Langstrecke klassifiziert. Zu den wichtigsten Disziplinen gehören der 5.000 und der 10.000 Meter Lauf. Auch Crossläufe oder der Stundenlauf sind beliebte Langstrecken-Disziplinen. Distanzen zwischen 1.000 und 5.000 werden gern als Tempodauerläufe genutzt, um das Wettkampftempo zu trainieren. Auch hier teilen wir uns die Distanz ein. Wessen vorrangiges Ziel es zunächst einmal ist, eine halbe Stunde am Stück unterwegs zu sein, nimmt sich mit Gehpausen, also kurzen Unterbrechungen eines Laufes, den Druck, eine bestimmte Distanz so schnell wie möglich zu absolvieren. Die Distanz kommt später mit dem Können von allein.

Langzeitbelastung trainieren

30 bis 40 Kilometer gelten im Sinne einer Marathonvorbereitung als ein langer Trainingslauf. Der langsame Dauerlauf über zweieinhalb Stunden und länger trainiert optimal die Energie-Effizienz und dient zugleich der mentalen Gewöhnung an “die langen Kanten”. Doch prüfe, wer sich “lange” bindet! Während einer langen Einheit müssen Flüssigkeits- und Energiezufuhr für die Belastungsdauer ausprobiert werden. Riegel oder Gel? Wasser oder Iso? Trockenfrüchte, Schokolade oder das klassische Butterbrot? Dazu Apfelschorle oder Tee? Auch dieser Test gehört zum Training. Durch lange, ruhige Läufe wird der Fettstoffwechsel trainiert, was einen kontinuierlichen Energiemix (Fette/Glykogen) über die Dauer fördert. “Ohne Schnaufen” zu laufen, hat zudem das Ziel, die aerobe Leistungsfähigkeit zu verbessern, also den Sauerstofftransport zur Muskulatur. Und nicht nur die laufspezifische Muskulatur, auch Knochen, Sehnen, Bänder und Gelenke müssen an die Langzeitbelastung gewöhnt werden. 

Ultralauf

Der “Einstiegs-Ultra” ist eine Distanz über etwa 50 bis 60 Kilometer – eine Abenteuer-Zone für alle, die sich über die magische Marathonmarke von 42,195 Kilometer hinaus wagen wollen. So wie für Athlet*innen in Spielsport- und Kampfsportarten ein gut ausgeprägtes Distanzverhalten besonders bedeutsam ist und beispielsweise Fechter*innen mit der Zeit die Fähigkeit erlernen, den Abstand zum Gegner genau zu bestimmen, ist auch für Läufer*innen ein räumliches (Abstands-)Empfinden und Gefühl für die Distanz trainierbar. Bei einem Ultra-Lauf sprinten selbst die Profis nicht direkt los. Der eigene Rhythmus, verhaltenes Tempo und Verpflegung sind ab hier relevant. Als psychologischen Trick teilt man sich die Strecke im Kopf ein. In diesem Artikel gebe ich Tipps zur Verpflegung auf der Ultramarathon Distanz.

Lauf ABC – D wie Distanz: Open End?

Nach rund 70 Kilometern spielt es kaum noch eine Rolle, ob daraus 80, 90 oder 100+ Kilometer werden. Wer eine solche Ausdauer hat, macht einfach weiter, auch nachts mit geladener Stirnlampe. Bei vielen Ultra-Trails ist eine Pflichtausrüstung im Laufrucksack mitzuführen, und es gibt Versorgungsstationen. Da bei so langen Rennen natürlich die Erholung bis zum nächsten Tag leidet, sollte man auf Mehrtages-Touren nur kürzere Tagesetappen einplanen. Letzteres ist nicht möglich beim „Sri Chinmoy Self-Transcendence 3100 Mile Race“, dem längsten zertifizierten Rundenlauf der Welt. Wer das auf 52 Tage angelegte Rennen über 3.100 Meilen (4.988 Kilometer) schaffen will, hat täglich 18 Stunden um etwa 100 Kilometer zurückzulegen, im Durchschnitt. Entfernungen scheinen (fast) keine Grenzen gesetzt. Die Bewertung, ab wann es extrem wird, ist individuell.

Distanz wahren

Ja, Distanz hat für uns eine hohe Bedeutung. Wer mental und körperlich dazu in der Lage ist, sich kurz und heftig zu verausgaben und seine Erfolge im 10tel-Sekunden-Bereich feiert, ist als Läufer*in genauso ernst zu nehmen, wie alle, die sich auf die “langen Kanten” fokussieren. Für den Ultraläufer stellt ein Marathon mittlerweile eine überschaubare Distanz dar, für Mittelstreckler sind 42,195 Kilometer sehr weit. Auch 5.000 Meter können verdammt lang werden. Es kommt eben auch darauf an, in welcher Intensität man eine Strecke läuft. Distanzempfinden kann sich verändern und sowohl von Mensch zu Mensch als auch von Lauf zu Lauf unterschiedlich ausfallen – und so verschieben sich bei den Distanzen auch die Realitäten. 

Was die meisten wettkampforientierten Läufer*innen vereint, ist das Bestreben, der Konkurrenz davonzulaufen. Wir wollen den Abstand zu Läufer*innen weiter hinten vergrößern. Eine deutliche Lücke reißen zu können und uns zu distanzieren, das motiviert. Es geht also nicht nur um die Distanz zwischen Start- und Ziellinie, sondern auch um den Abstand untereinander. Wir kennen das aus anderen Bereichen: unser Bedürfnis nach Freiraum, die individuelle Komfortzone. Warteschlangen bei der Startnummernausgabe, Gedränge in den Startblöcken, Massenstarts und Stau an Engstellen auf der Strecke – manch eine*r empfindet die Enge beklemmend. Sogenannte Crowding-Situationen, in denen wir Fremden näher sein müssen, als uns lieb ist, können regelrecht psychischen Druck auslösen. Auch bestimmte Formen der Begrüßung können “zu nahe gehen” und Unbehagen auslösen. Solche spezifischen Wahrnehmungsweisen von Körperdistanz bzw. -nähe sind dem Begriff der Proxemik (lat. proximare sich nähern) zuzuordnen. Forscher auf diesem Gebiet beschäftigen sich mit dem Raumverhalten, also der räumlichen Konstellation der Kommunikations- oder Interaktionspartner in einer bestimmten Situation.

Distanz kann schützen.

Im Mittelalter war die soziale Distanzierung die einzige Möglichkeit, mit Krankheiten umzugehen. Menschen zogen sich zurück. Pestkranke wurden isoliert und aus den Städten verbannt. Man versorgte sie allenfalls mit dem Notwendigsten. Abstand kann Unversehrtheit und Gesundheit wahren. Aktuell stehen das Gebot der Distanz und das Bedürfnis nach Nähe im Widerspruch zueinander. „Social Distancing“, ein englischer Fachausdruck aus der Epidemiologie, ist in den deutschen Wortschatz eingeflossen, als Bezeichnung für die während der Pandemie gebotene physische Distanz zwischen Menschen. Der Begriff wird oft eins zu eins mit “soziale Distanzierung” übersetzt – doch genau das Gegenteil ist jetzt angesagt: Gemeinsinn, Kooperationsfähigkeit und Verantwortung füreinander. Doch was macht dieses neue Gefühl von Distanz mit uns und unseren Beziehungen? Die Beantwortung der Frage ist wohl individuell – so wie der eigene Laufstil. Zwar können wir uns über das Internet sprichwörtlich auf dem Laufenden halten, nehmen virtuelle Herausforderungen an und haben neben Live Workouts zahlreiche Möglichkeiten, an unseren Schwächen zu arbeiten – doch jedes Läuferherz tickt anders.

Auf Distanz gehen

Manchmal wird Distanz nicht in Längeneinheiten gemessen, besteht nicht zwischen zwei Punkten, sondern zwischen Seelen ein innerer Abstand entsteht. So wie jede Paarbeziehung davon lebt, dass Partner*innen sich einander annähern, so geht es auch in unserer Beziehung zum Laufen nicht ohne Distanz. 24 Stunden und sieben Tage die Wochen nur miteinander zusammenhocken sind nicht unbedingt förderlich. Es fehlt, dass man sich vermisst, Sehnsucht hat. So wie Paare, die mit einem Zuviel an Nähe möglicherweise entweder heftigen Streit oder gähnende Langeweile erleben, können wir uns bewusst oder unbewusst vom Laufen distanzieren – weil es zu viel war.

Eine Übertreibung beim Sport führt nicht selten zu Verletzungen. Dann bedarf es gezwungenermaßen einer Pause. Die Phase der Ruhe zu akzeptieren und damit umzugehen ist nicht für jede*n leicht. Ein ungeliebter Prozess der Distanznahme und des Distanzwahrens gegenüber dem geliebten Hobby steht an.

Vermutlich haben wir aber auch alle schon einmal emotionale Distanz zum Laufen gespürt. Ein Motivationsloch, dass nichts mit dem altbekannten inneren Schweinehund zu tun hat. Etwa nach einem besonders harten Wettkampf oder in Trainingsphasen, die so gar nicht rund laufen. “Höher, schneller, weiter” kann sowohl körperlich als auch mental überfordern, besonders wenn wir zeitgleich in anderen Bereichen unseres Lebens Vollgas geben müssen. Vielleicht sind zeitgleich andere Dinge wichtiger als unsere Laufleistung – und sollten es sein. Wenn Laufen zur Last wird, bedarf es nicht selten eines Sicherheitsabstands und der Absicht, den beziehungsbedrohlichen Kreislauf unterbrechen zu wollen. Ruhe im (Laufschuh-)Karton! Auch ein Perspektivwechsel kann helfen: Uns aus der Distanz beobachten. Wie dankbar ich sein kann, über meine Fähigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wie glücklich ich mich schätzen kann, in dieser schönen Landschaft zu laufen. Vielleicht nehme ich zur Abwechslung mal eine andere Laufstrecke, doch wie stark ist allein der psychologische Nutzen vom Laufen? Die Glücksgefühle, der Stolz nach Erreichen eines Ziels. All das kann trübe Gedanken vertreiben.

Lauf ABC – D wie Distanz: Neustart

Durch Distanz und wiedergewonnene Stärke können wir einen neuen Anlauf nehmen und nach einem schonungsvollen Wiedereinstieg neu fokussiert dem Lauftraining wieder gerechter werden, alte Freude neu entdecken. So wie wir als Kind putzige Holztiere am Faden gezogen und schnittige Fahrzeuge an einer Stange vor uns hergeschoben haben, steht uns nun anderes “Spielzeug” zur Verfügung, das uns zum Laufen anregen kann. Vielleicht belohnen wir uns mit einem Paar neuer Laufschuhe oder einer neuen Laufuhr? Und so tasten wir uns wieder langsam ans Laufen heran. Schritt für Schritt wie damals in Mamas Arme. Ein Neustart. Wir können uns auch mal entfernen, müssen es aber nicht. Vor allem nicht von uns selbst.

Diesen Artikel habe ich für die LAUFZEIT Ausgabe 1/2021 geschrieben, wo er am 09.12.2020 als Titel-Story zuerst erschienen ist: https://www.instagram.com/p/CIiDgmanJji/

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