Eine der besten Möglichkeiten, einen Ort (neu) zu entdecken, ist SIGHTRUNNING – die Verbindung von Laufen mit dem klassischen Sightseeing.
Wir haben uns 6 Tage Zeit genommen, um 6 Städte in 4 nordischen Ländern im Laufschritt zu erkunden – mal auf und mal abseits von den touristischen Pfaden. Bereit für eine Entdeckungstour durch Riga, Stockholm, Mariehamn/Aland, Turku, Helsinki und Tallinn? Laufschuhe an, los geht’s!
SIGHTRUNNING RIGA/LETTLAND – MEIN PERSÖNLICHER HALBMARATHON
Wenn eine Läuferin und ein Fotograf unterwegs sind, klingelt der Wecker meist in aller Herrgottsfrühe. Beide wollen auf unterschiedliche Weise die Morgendämmerung nutzen. Er (also Olli) auf der Jagd nach dem “besten Licht” und leeren Gassen, sie (also ich) um zu spüren, wie die fremde Stadt und der eigene Körper erwachen. Unsere letzte Reise nach Riga liegt schon eine Weile zurück. Wir sind neugierig, was sich hier verändert hat.
Eine gute Orientierung fürs Sightrunning bieten die Streckenverläufe von organisierten örtlichen Laufevents. Veranstalter von Stadtmarathons und Cityläufen sind meist darauf bedacht, die Streckenführung für ihre Teilnehmer möglichst interessant zu gestalten, entlang der “Highlights”. Die Route lässt sich leicht auf der jeweiligen Website abrufen. Ich folge heute dem Streckenverlauf des Riga Halbmarathons. Gut 21km durch die Hauptstadt Lettlands – meine GPS-Uhr hat sich von selbst an die Ortszeit angepasst, also los!
Am Rand der Altstadt präsentiert sich die Glitzer-Metropole, die bekannt ist für ihre Jugendstilbauwerke, überschüttet mit Figuren, Ornamenten und Schnörkeln an den Giebeln, zunächst von einer weniger prachtvollen Seite. Inmitten großer Betonbauten hat sich der Verfall eingenistet. Einige der mondänen Wohnhäuser sind verlassen, ihre Fensterrahmen kaputt. Zum touristischen Stadtkern mit seinen makellosen Fassaden passen diese Wände, die Einblick auf abgewirtschaftete Hinterhöfe geben, nicht. Sie sehen trüb und ausgebrannt aus, und könnten sie sprechen, wären die Geschichten wohl sehr traurig.
Doch mit der Durchquerung der Parkanlagen, früher Verlauf der Stadtmauer, ändert sich die Szenerie. Auf dem Pilsetas-Kanal gleitet ein Kajakfahrer mit gemächlichen Paddelschlägen vorwärts. Gleichzeitig tänzeln mir drei Nachtschwärmer im glückseligen Rausch entgegen. Ich laufe, meinem eigenen Rhythmus folgend, in den 1. Maifeiertag hinein.
Weithin sichtbar sind die Neubaukomplexe, die das Westufer des Flusses Daugava (dt. Düna) prägen. Spätestens während der Überquerung der 625m langen Vanšu-Schrägseilbrücke überkommt einen beim Gedanken daran, dass hier beim “offiziellen” Halbmarathon in der größten Stadt des Baltikums hunderte Zuschauer applaudieren, Gänsehaut.
Sobald man die Brücke in Richtung der Insel Ķīpsala verlässt, wird es ruhig. Leise Farben bestimmen die traditionelle lettische Holzhausarchitektur, dezentes Beige, Rosa und Lindgrün. Man gibt sich Mühe, liebevoll und ursprünglich zu renovieren, doch bei näherem Hinsehen werden auch hier in den Straßenverläufen Gegensätze deutlich. Im Schatten alter Bäume, die Gärten von Unkraut überwuchert, das Taubenblau der Holzwände längst verblasst, weht ein Gardinentuch wie einladend ins kahle Innere eines verlassenen Hauses, das nicht dem Zahn der Zeit überlassen bleiben möchte.
Ich nehme Tempo auf, zurück über das wirbelnde Wasser. Unter der Brücke liegt das Schiff-Restaurant “Rigas Perle” vor Anker, vor mir das Schloss und das erstaunliche Panorama von Alt-Riga mit dem Rigaer Schloss, Sitz des lettischen Staatspräsidenten. Während die Touristen noch in ihren Betten schlummern, kann sich Olli mit seiner Kamera in den gepflasterten Straßen der mittelalterlichen Altstadt der Hansestadt, die seit 1997 zum UNESCO-Welterbe gehört, austoben. Dom, Schwarzhäupterhaus, Rathausplatz und die vielen geschichtsträchtigen Gebäude…
Ich lasse alles einen Moment auf mich wirken und laufe dann über Pflastersteine, deren Anordnung mehr Zufall als eine Straße ist, erneut zur breiten Strommündung an der Ostsee. Weit schweift mein Blick. Hin zum Fernsehturm. Ich will jetzt rennen, immer am Wasser entlang und über die nächsten Brücken. Die Beine strecken – flach, über Asphalt, freie Bahn! Mehr brauche ich grad nicht.
Oberhalb der Speicherstadt, vor den riesigen Hallen des Zentralmarktes, räumen die Händler ihre Waren in die Auslagen der Stände: Erdbeeren, Schweinefüße und Tomaten aus dem eigenen Garten reihen sich neben eingelegten Weißkohl, mit Käse gefüllte Pfannkuchen und gebrauchte Blusen. Frauen in geblümten Kitteln bieten für wenig Geld Blumen an, die aussehen wie am Waldrand gepflückt und in der frühen Morgensonne leuchten.
Neben dem “Bauch von Riga”, wie die ehemaligen Zeppelin-Hangare auch genannt werden, rumpelt und quietscht eine Straßenbahn ohrenbetäubend über die holprigen Schienen. Eine Kostprobe der landestypischen Spezialitäten spare ich mir für später.
Auf der Spitze eines Kirchturms scheint mir eine goldene Wetterfahne in Form eines Hahns den Weg zu weisen. Plötzlich strahlen mich in der aufgehenden Sonne zwei ebenso gold glänzende Sportbrillengläser an. Ein erster Läufer kommt mir entgegen. Die Hand zum Gruß klatschen wir early birds uns beinahe ab. Wie Staffelübergabe – denn mein Ziel ist fast erreicht.
Wer schließlich über die Alberta und Elizabetes Iela, zwei Prunkstraßen der Jugendstilarchitektur, zurück in die Neustadt läuft, wird bestimmt das ein oder andere Mal beeindruckt schauen – immerhin hat das Sightrunning auch bei mir nun ein bisschen Neugier auf Kunstgeschichte geweckt.
SIGHTRUNNING STOCKHOLM/SCHWEDEN – GEMEINSAM AN UNSERE LIEBLINGSORTE
Über Nacht und das offene Meer hat uns eine Fähre von Lettland nach Schwedengebracht. Stämmarsund, Dyvik, Lyusterö, Tynningö… Fasziniert studiere ich auf Google Maps die Namen der Inseln, an denen sich unser Schiff durch das enge Fahrwasser vorbeischlängelt. Wir kommen unserem Zielhafen Stockholmimmer näher. Die dunklen Wolken auf der anderen Seite des blinden Bullauges werden sich schon noch verziehen. Die Musik im Frühstücksraum spielt wie zur Bestätigung “Something tells me I'm into something good…” Mit eben diesem Gefühl schultere ich meinen kleinen Laufrucksack – Olli, let’s fetz! Heute machen wir Sightrunning zu zweit.
Wir scharren mit den Hufen. Stockholm hat viele Sehenswürdigkeiten, wir aber nur wenige Stunden Aufenthalt. Mit unseren farbenfrohen Shirts und Shorts winden wir uns durch die dunkle Masse der Passagiere, die in Schwedens Hauptstadt von Bord schleicht. Unsere Uhren haben sich wieder 1h zurückgestellt. Da die Reise mit einem anderen Schiff weitergeht, schließen wir unser Gepäck am Terminal ein und sprinten los. Ein älteres Pärchen gibt zudem mit einem “Daumen hoch” quasi den Startschuss für unsere urbane Erkundungs-Tour.
Der Fährterminal befindet sich nicht weit von Stockholms denkmalgeschütztem Olympiastadion, für die Olympischen Sommerspiele 1912 gebaut. Wir kennen den Weg, schließlich hatten wir beide 2018 schon einmal die Ehre, im Rahmen des Marathons dort einzulaufen.
Die Eisentore sind nicht verschlossen. Es nieselt ein wenig. Wir suchen uns eine Bahn, auf der wir niemanden beim Training stören, und traben auf dem federnden Kunststoffbelag. Ein paar obligatorische Fotos müssen sein, und wir schwelgen in Erinnerungen an das Event im letzten Jahr.
Zugegebenermaßen haben wir keinen konkreten Plan, was die heutige Laufstrecke angeht. Zunächst hatten wir überlegt, uns in Stockholm einer Laufgruppe anzuschließen und uns von den Locals an die “geheimen Ecken” ihrer Stadt führen zu lassen, doch müssen wir leider schon wieder zum Boarding, wenn diese Feierabend machen und raus können.
Wir genießen das harmonische Mit- und Nebeneinander zu zweit und haben einfach Spaß am Sightrunning. Von Östermalm über Gamla Stan nach Södermalm, dort entlang wo es uns gerade gefällt, zurück an unsere Lieblingsorte.
Beim Laufen lasse ich meine Handy-Kamera sonst zu Hause oder in der Jackentasche. An diesem Tag aber drücke ich alle paar Minuten auf den Auslöser. Olli läuft vorm Königspalast. Klick. Olli läuft am Reichstag vorbei. Klick. Gemeinsames Selfie am Wasser. Klick, Klick, Klick…
Plötzlich setzt doch heftiger Regen ein. Perfekter Zeitpunkt für eine Pause. Olli hat schon mit den E-Scootern geliebäugelt, die überall im Einsatz sind. So leicht kommt er mir nicht davon! Wir suchen Schutz in einem Café – kein coffee “to go” bzw. “to run”; wir trinken in Ruhe, nehmen uns Zeit, und eine Zimtschnecke darf’s auch sein.
Zurück auf der Straße. Zwei Doppeldeckerbusse stehen Stoßstange an Stoßstange, voll besetzt mit Touristen, die sich beim Sightseeing offensichtlich weniger gern bewegen möchten. Wir springen über Pfützen (der Kaffee sorgt für neuen Schwung) und bahnen uns unseren Weg durch die Gassen… Vor einer großen Touristengruppe müssen wir unser Tempo verlangsamen. “St. Georg mit dem Drachen kämpfend…” Die Stimme der Stadtführerin klingt wie vom Band. Wir schlängeln uns vorbei, und ich bin mir sicher, dass wir bei unserer temporeichen Stadtführung in kürzester Zeit viel mehr sehen – und zwar das, was uns wirklich interessiert. Es ist schön, mit dem Partner Kultur zu schnuppern und sportlich aktiv zu sein.
Wie grün (und blau vom Wasser) die Stadt ist, lässt sich eindrucksvoll sehen, wenn man Stockholm von oben betrachtet. Unser Lieblingsort: Monteliusvägen. Am Nordufer des Stadtteils Södermalm führt eine Straße den Berg hinauf. Bevor man also den romantischen Ausblick genießt, heißt es an der steilen Bastugatan noch einmal besonders sportlichen Ehrgeiz zu zeigen: Bergsprints! Auf dem Aussichtspunkt glaubt man sich meilenweit entfernt von jedem Großstadttrubel. Der Blick reicht weit, und man kommt schnell wieder zu Atem. Der Himmel klart auf.
Man soll Hejdå!/Tschüss sagen, wenn’s am schönsten ist… Zurück am Schiffsanleger ernten wir interessierte Blicke von Mitreisenden. Ich hoffe, dass sie in den vergangenen Stunden auch mehr als das Innere des Fährterminals gesehen haben. Wir machen uns mit Feuchttüchern schnell frisch, dann heißt es: Leinen los, und ab auf die Insel(n)!
SIGHTRUNNING MARIEHAMN/ALAND – INSELHOPPING
Um kurz vor Mitternacht macht unsere Fähre mitten in der nördlichen Ostsee, etwa auf der Hälfte ihres Weges von Schweden zum finnischen Festland Halt in Mariehamn, der Hauptstadt (und einzigen Stadt) der autonomen finnischen Region Åland. Ein bisschen fühlt es sich an wie ein magischer Terminal, ähnlich wie Gleis 9 ¾ bei Harry Potter, von dessen Existenz niemand weiß – denn von den über 2.000 Passagieren verlassen nur wir zwei und ein Mann mit Aktenkoffer das Schiff, welches nach einem 15minütigen Aufenthalt weiterfährt.
Es hat geschneit. Unter den Straßenlaternen der lindengesäumten Esplanade tanzen kleine Schneekristalle. Der Boden schimmert rot. Es ist der Rapakiwi, der rote Granit des åländischen Urgesteins. Beeindruckende Kapitänsvillen und der Viermast-Segler “Pommern” erinnern an vergangene Zeiten.
Wenn ich unterwegs bin, nutze ich in der Regel den Abend, um mich über die nächste Destination zu informieren und die Laufroute für den folgenden Tag zu planen. Beim Trailrunning greife ich auf Apps und Websites wie Outdooractive, Tracedetrail oder Gpsies zurück. Auch das Tourenportal der Alpenvereine oder Tourismusbüros liefern vielfältige Beschreibungen; dabei können Mountainbike-Strecken ebenfalls eine gute Wahl für einen Lauf im Gelände sein. Innerstädtisch bieten vor Allem Strava, Google Maps und komoot eine gute Orientierung beim Sightrunning.
Auf Aland, zu deutsch: Wasserland, eine geeignete Strecke zu finden, stellt allerdings eine besondere Herausforderung dar. Die Landschaft besteht aus über 6.500 Inseln und der Küste vorgelagerten, klitzekleinen, meist felsigen Schären – ein in alle Himmelsrichtungen versprengtes Labyrinth aus Meeresarmen, Binnenseen und Kanälen. Es gibt vier Hauptstraßen und ca. 30 Brücken, die die sechs größten Inseln verbinden, zu erreichen sind die meisten Schären aber nur per Fähre oder Boot.
Ich laufe gen Süden. Südlich von Mariehamn ziehen sich die kleinen Inseln Styrsö, Granholm, Nåtö und Bergö, mit Brücken und Dämmen verbunden, wie eine Perlenkette hin. Mein Ziel ist die südlichste: Järsö. Man läuft zunächst am Rand der Ausfallstraße, was niemanden stört, denn es ist niemand unterwegs. Von den tausenden Inseln leben die rund 29.000 Aländer auf nur sechzig; der Rest ist unbewohnt – ein Robinsonparadies.
Dabei ist das Reich der Alandinseln kein heißes Karibik-Atoll, sondern sturmzerzauste Küstenpartie, von der Eiszeit und dem Wellenspiel der Ostsee geformt. Palmen und Strand sucht man vergebens. Ein hübsches Holzhaus, farbig mit weißen Kanten, möglichst etwas abseits im Gelände, zwischen kargen Granitfelsen oder hinter verschwiegenen Birkenhainen, eine Sauna nebendran, dazu ein Steg und ein gepflegtes Ruderboot an einer stillen Bucht – das sind die Symbole eines zufriedenen Daseins auf Aland.
Ein “Musst-du-unbedingt-gesehen-haben” gibt es auf meiner Laufstrecke heute nicht. Ein Dutzend Schafe grasen im Schatten eines krummen Windrads, um sie herum unglaublich sattes Grün, dahinter der Bildband-Bauernhof, in dessen Garten eine Mittsommerstange und die blau-rot-gelb-gekreuzte Landesflagge. Eigene Fahne, eigene Nationalhymne, eigenes KFZ-Kennzeichen und Internetdomain .ax – Aland legt Wert auf seine Autonomie von Finnland. Aländer sprechen schwedisch.
Ich laufe entlang karger Fichtengruppen, windgekrümmter Kiefern und üppiger Laubwiesen, und immer wieder glitzern die Wellen im Wasser tausendfach. Es fühlt sich an, als würde ich “über” das Meer laufen, Inselhopping. Von der eigenen Neugier geführt, biege ich an der Südspitze meiner Route auf einen kleinen Pfad ab. “Betreten auf eigene Gefahr” – bei einem Unwetter Anfang des Jahres ist einiges umgefallen, dicke Äste und Baumstämme versperren hier und da die Strecke.
Der Weg ist uneben, mit Steinen mal blank und rutschig, mal in federndem Moospolster gekleidet. Ich laufe langsam, suche mir einen Pfad, grätsche, klettere, krabble und springe – jeder Schritt ein kleines Abenteuer für sich. Als ich schließlich an einer windumtosten Steinlandschaft auf hohen roten Granitklippen anhalte, spüre ich, wie Aland heute ein Stück seiner Wildnis und gleichzeitig Ruhe beim Sightrunning in mich hineingezaubert hat.
SIGHTRUNNING TURKU/FINNLAND – ÜBER SIEBEN HÜGEL MUSST DU RENN’N…
Mein Freund und ich sind mit einem gemeinsamen “Romantic run” in diesen Tag gestartet (ja, die Tourismuszentrale der Stadt führt einen mit dem Flyer “Romantic Turku cultural exercise route” tatsächlich an die besten Orte zum Knutschen) – 6,2 km Sightrunning mit dem Liebsten!
Doch jetzt heißt’s Treppentraining! Der zweite Flyer “Stepping it up” leitet mich auf weiteren 11km über 1.256 Stufen. 65, 66, 67… Stufen bis zur St. Michael’s Kirche, check! 89, 90, 91… der Puolalanmäki (aka Art Museum Hill) ist erklommen, check! Links, rechts, links, rechts… Man kann sich leicht verzählen bei den vielen unterschiedlichen Treppenstufen in Turku. Die Stadt ist wie Rom auf sieben Hügeln (Mäki) gebaut – und von Ehrgeiz gepackt kann ich sie natürlich nicht verlassen, ohne überall oben gewesen zu sein.
Auch der Tourismusverband empfiehlt diesen Fitnessbooster: “Adding steps to your route gives you a chance to raise your fitness levels almost without noticing – each step you climb corresponds to ten steps on level ground!”. Der Gedanke daran, wie viel von diesem Treppen-Workout man am nächsten Tag tatsächlich “nicht merkt”, wird weggeschoben.
Alle Aufmerksamkeit gilt jetzt dem Ausblick hinab auf den belebten Marktplatz, wo Passagiere mit Bussen an- und abreisen. Zum Glück habe ich meine Sightrunning Route selbst in der Hand (heute im wahrsten Sinne des Wortes in Papierform).
Aninkaistenmäki ist der nächste Hügel. Hier lag 1827 das Epizentrum des Großen Stadtbrandes, der innerhalb eines Tages drei Viertel der Häuser Turkus vernichtete. Spannend. Stadtbesichtigung im Schnelldurchlauf – fremde Strecken, neue Pfade, unbekannt und geheimnisvoll. In der Nähe der Uni hat der Yliopiston-Hügel mehr als 200 Stufen im Angebot, und dann scheucht einen der Flyer selbstverständlich zum Nationalheiligtum hoch, dem Dom (70 Stufen return).
An der Uferpromenade des Flusses Aurajoki ist der Moment günstig, kurz zu verschnaufen, dann ruft der nächste Hügel: Kerttulinmäki, heute eine ruhige Wohngegend, war vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein als Hirttomäki (“Lynch Hügel”) bekannt. Früher wurden die Leichen hingerichteter Verbrecher als Warnung für andere hier aufgehängt. Puh. Und weiter.
An den Treppen des Vartiovuori-Hügels wuchert wildes Grün. Wo gerade noch welliges Kopfsteinpflaster die Sohlen massiert hat, knirscht nun der Kies. Das unterschiedliche Terrain des Parks bringt Laune – das Spiel mit verschiedenen Geschwindigkeiten, Hindernisse, die überwunden werden wollen… Citytrail-Running at it’s best. Schweissnasses Gesicht, die Oberschenkel brennen, der Puls rast oben auf Samppaliannan – k.o. aber happy bewundert man den Blick über die Stadt von einem seiner grünen “Berggipfel” aus.
Auch für alle, die keine straffe Tempoeinheit herunterreißen möchten, lohnt nun ein Abstecher zum Paavo-Nurmi-Stadion: Ein bisschen Gänsehaut ist garantiert beim Betreten der Bahn. Schließlich haben an diesem Ort schon ganz andere Raketen ihre Runden gedreht… und 20 Weltrekorde aufgestellt: u.a. der Ausnahmeläufer und “Flying Finn” Paavo Nurmi über die 3.000m (anno 1922). Turku ist Nurmis Geburtsstadt und hat zu seinem 100. Geburtstag (anno 1997) das Stadion nach ihm benannt.
Mit neuem Schwung mache ich mich auf zum Sightrunning Endspurt – ein Mäki geht noch! Auf Kakola, dem zweitgrößten Hügel in Turku, wurden über 150 Jahre lang (bis 2007) die schlimmsten Verbrecher des Landes hinter Eisentüren und Granitsteinmauern eingesperrt. Viele glauben, dass der Name mit den seinerzeit dort lebenden Geisteskranken zusammenhängt (“kako” bedeutet verrückt). Im alten Pferdestall des Gefängniswächters befindet sich heute ein Museum.
Auch wenn die Anlage heute Turkus neuestes Wohnviertel mit Premium Apartments und hippem Drum und Dran (kleine Brauerei, Kaffeerösterei, Gourmet-Restaurant, Cafés und ein Inneneinrichtungsgeschäft) ist… die hoffnungslos trostlose Atmosphäre ist noch zu spüren. Eine Standseilbahn zum Flussufer ist geplant – ich nehme lieber meine Füße in die Hand und renne den Weg, treppab zum Hotel.
Weitere Tipps zu Turku findest du im Blog von Overland Tour.
SIGHTRUNNING HELSINKI/FINNLAND – YOUR BODY IS A WONDERLAND
Nach zweistündiger Zugfahrt erreichen wir am Abend Helsinki. Hier sind wir zwei Nächte zu Gast. So können wir einmal ausschlafen, und ich muss mich nicht beeilen, um pünktlich zum Check-Out vom Laufen zurück zu sein. Das Laufen brauche ich, täglich. Es schenkt mir Energie und gleichzeitig Entspannung, außerdem das Bewegungspensum um gesund zu bleiben. Die Leidenschaft und mein Wunsch zu Laufen hört auf Reisen natürlich nicht auf – im Gegenteil.
Beim Blick aus dem Fenster muss ich grinsen. Unser Appartement befindet sich direkt an der beliebtesten Laufstrecke der Stadt. Friedlich und malerisch liegt die Bucht Töölönlahti im Herzen von Finnlands Hauptstadt. Hier könnte man Runde um Runde drehen (ähnlich wie um die Alster in Hamburg). Einmal rum sind’s nur 2km – immer am Wasser entlang, mit Blick auf die Finlandia-Halle, das Opernhaus und den Turm des Olympiastadions. “Unbedingt gegen den Uhrzeigersinn” gibt mir unsere Concierge als Tipp mit auf den Weg. Um keinen Drehwurm zu kriegen, gibt es allerdings auch zahlreiche Ausstiegsoptionen… z.B. Richtung Küste.
Auch ein Blick auf die Strava Heatmap zeigt: In Helsinki läuft man am Wasser, immer am Wasser. Doch halt, eine fette Linie erstreckt sich nordwärts… Nördlich der Bucht Töölönlahti durchquert der Stadtpark Keskuspuisto, Helsinkis eigener „Central Park“, die Stadt auf 10km. Mit jedem Schritt, den man weiter in die Oase von rund 1000 Hektar Grün eintaucht, zeigt sich: dies ist kein Central Park wie in New York, sondern richtig dichter Wald.
Weicher Boden, es duftet nach Tannennadeln und süßem Holz. Spontan entscheide ich mich beim Sightrunning für ein Fahrtspiel. Abseits des Hauptweges, auf dem die meisten Radfahrer und Spaziergänger unterwegs sind, finde ich abwechslungsreiche Trails. Wechselnde Untergründe und Kurven fordern eine ständige Anpassung des Lauftempos, aber auch Wechsel der Schrittlängen und -frequenzen.
Offroad taucht man in eine andere Welt ein. Ich fühle ich mich komplett von der Hektik des Stadtlebens abgeschnitten und tobe mich auf sanften Hügeln aus wie ein kleines Kind. Neben mir springen Eichhörnchen die Bäume hinab, ein Hase mustert mich aus einiger Entfernung. Der dichte Wald bietet Wildtieren unzählige Versteckmöglichkeiten. Mich würde es nicht wundern, auf eins der Mumins, der in Finnland allgegenwärtigen Fabelwesen, zu stoßen.
Wer hätte in Anbetracht von Helsinkis atemberaubender Architektur und des allgegenwärtigen urbanen Trubels gedacht, dass direkt im Herzen dieser Großstadt so eine andere Welt auf einen wartet, die einem hervorragende Möglichkeiten für Outdoor-Sport und Erholung bietet?
Im Wald gibt es auch eine Loipe, die im Winter zum cross-country skiing genutzt wird und mit einer weichen Sägemehldecke bedeckt ist.
Für den Rest des Tages leihen wir uns Fahrräder, erkunden die “Must Sees”, schlemmen im Café und entspannen am Abend, wie die Einheimischen, in der öffentlichen Sauna.
Am nächsten Morgen ruft wieder das Wasser. Dank Movescount, der Online-Sportcommunity des finnischen Orientierungsprofis Suunto, habe ich einen Abstecher zur Insel Seurasaari erreicht. Etwa ein Drittel des bezaubernden Inselgebiets ist ein Freilichtmuseum, das Besuchern Einblick in die traditionelle finnische Lebensweise bietet und die Häuser der letzten vierhundert Jahre zeigt. Ich gebe zu, kein großer Fan von Kunstgalerien und Ausstellungen zu sein… Auf hügeligen Pfaden laufend, in einem leicht bewaldeten, felsigen Terrain, das über der Ostsee zu schweben scheint, macht so ein Museumsbesuch allerdings richtig Spaß!
Weitere Reisetipps zu Helsinki findest du im Blog von „The Road Most Traveled“.
SIGHTRUNNING TALLINN/ESTLAND – MEHR ALS NUR SHOW
Mit glühenden Wangen sehe ich mich auf dem Rathausplatz um – als eine der wenigen, die keine Nummer auf dem Oberteil trägt. Dabei habe ich nicht etwa ein Rennen verpasst. Ich gehöre nur keiner der Ausflugsgruppen an, die durchnummeriert und so zahlreich vom Kreuzfahrtschiff durch die kleine, kompakte Altstadt Tallinns geschleust werden. Dass man sie zu Fuß ablaufen kann, darin sind wir uns einig. “Mittelalter wie im Bilderbuch”. UNESCO-Weltkulturerbe.
Ja, auch ich bin schockverliebt in die hübschen Giebelhäuser und verwinkelten Gassen. Gleichzeitig fühle ich mich wie im Märchen-Film. Als dicke Mönche und schüchterne Mägde kostümierte Schauspieler und Straßenkünstler versuchen, eine typische Mittelalter-Atmosphäre zu erzeugen.
Ich möchte herausfinden, was Tallinn noch zu bieten hat – und laufe zunächst weiter zu einem der vielen Aussichtsplattformen auf dem Domberg. Rote Dächer ohne Ende. Die Kirchen Olai und Nikolai recken ihre Spitzen am weitesten in den Himmel. Was für eine weite Sicht über die Stadt! Dabei wird klar: Die historisch gut erhaltenen und liebevoll restaurierten Bauwerke brauchen die Unterstützung von heldenhaften Rittern und falschen Burgfräulein gar nicht. Mit ihrem mittelalterlichen Charme erzeugen sie die besondere Atmosphäre von selbst.
Zum Sightrunning Start wähle ich eins der imposanten Stadttore und beginne, in einem ausgedehnten Ring um den Stadtkern herumzulaufen. Außerhalb der alten Stadtmauer zeigt sich Tallinns Vielfalt. Es tut sich einem eine moderne Metropole auf. Ich laufe durch den Stadtteil Telliskivi, Spitzname “The Creative City“. Mode, unzählige Galerien, Flohmärkte und Bars. Ich laufe durch “Hipsterville” Kalamaja, alternativ, mit bonbonfarbenen Holzhäuschen. Bullerbü-Romantik. Ich laufe auch durch das Rotermann Viertel.
Ein Mix aus avantgardistischen Bauten und ehemaligen Fabriken. Heute sitzen darin StartUps und Designerläden. Drei Viertel, die lebendige Beispiele dafür sind, dass unter der historischen Fassade der Stadt ein junges, ehrgeiziges Herz schlägt. Wo früher Schnaps gebrannt und Salz gelagert wurde, wird heute gewohnt, geshoppt, flaniert oder verweilt… und gesurft – ein flächendeckendes freies WLAN-Netz ist in Tallinn schon seit Jahren inklusive.
Nach einem Abstecher durch den eleganten Schloss- und Stadtpark Kadriorg erreiche ich den Strand von Pirita. Mit wärmenden Sonnenstrahlen im Rücken blicke ich zurück auf die Skyline der Stadt. Die prachtvollen Zwiebeltürme der Newski-Kathedrale sind weithin sichtbar. Gläserne Wolkenkratzer stehen wie selbstverständlich daneben, in Harmonie mit den alten Wehrtürmen “Langer Hermann“ und “Dicke Margarethe“. Auf den Grundmauern der alten Burg thront heute der rosafarbene Parlamentspalast. Die Hauptstadt Estlands ist längst aus dem Mittelalter erwacht.
Dem frischen Ostseewind ist es gelungen, auch mir auf dem letzten Stück hierher entlang der Küstenpromenade die Müdigkeit aus dem Gesicht zu pusten. Eine Woche Städte-”Speeddating” mit täglichem Pendeln, Packen und Check-In/-Out hinterlassen ihre Spuren. Jetzt wird's Zeit, wieder unseren Heimathafen Hamburg anzusteuern.
Ich bin dankbar für die facettenreichen Einblicke, die ich auf diesem Städtetrip durchs Sightrunning gewinnen konnte und kann nur jedem ans Herz legen, sich Zeit zu nehmen, um hinter die Kulissen einer Stadt zu sehen – oder dafür in ein Paar Laufschuhe zu schlüpfen. Happy Sightrunning!
Unsere Erlebnisse und was die Faszination Sightrunning ausmacht, habe ich auch in einem Artikel in der Zeitschrift LAUFZEIT & CONDITION (Ausgabe 7-8/2019) geschildert: