Jeder Mensch hat Erwartungen an sich selbst und sein Umfeld. Auch im sportlichen Kontext begegnen wir allgegenwärtig Erwartungen. Wie können wir uns das zunutze machen? Und wie gehen wir damit um, wenn unsere läuferischen Erwartungen enttäuscht werden?
Alle haben Erwartungen. Sie begleiten uns tagtäglich.
Wir erwarten, dass die beste Freundin für uns da ist, wenn wir schlecht drauf sind, dass der Laufkumpel pünktlich am Treffpunkt an der Ecke steht und dass im Haushalt alle zur Ordnung beitragen. Wir erwarten Glückwünsche zum Geburtstag, dass das Laptop anspringt, wenn wir es aufklappen und auch der Hund aufs Wort gehorcht. Die Eltern erwarten längst mal wieder einen Anruf, und der Nachbar erwartet, dass man ihn zuerst grüßt – denn “das gehört sich so”. Vernünftige Ausbildung, solides Einkommen, ordentliche Lebensverhältnisse und so weiter. Ein Netz an Erwartungen. Erwartungen können sich auf das eigene Verhalten, das Benehmen anderer Menschen sowie auf Ausschnitte der Wirklichkeit beziehen. Sie wurden in der Kindheit an uns herangetragen, haben uns geprägt, spiegeln Werte und Wünsche wider. Mit Erwartungen imaginieren wir unsere Zukunft; es sind Quasi-Gewissheiten, die uns helfen, das Leben zu strukturieren und einschätzbarer zu machen.
Auch unseren Sport üben wir nicht ohne Erwartungen aus.
Häufig liegt die Motivation mit dem Laufen anzufangen darin, etwas für die Gesundheit zu tun, fit und ausgeglichen zu werden oder abnehmen zu wollen. Neben einem flotten Körper geht es uns auch um den psychischen und sozialen Nutzen.
Vor allem Laufanfänger erwarten am Anfang oft zu viel zu schnell.
Der Kumpel läuft die 10-Kilometer-Runde unter 40 Minuten – das kann ich ja wohl schneller! Motivation und Tatendrang in allen Ehren, nach den ersten Laufeinheiten dämmert doch oft die Erkenntnis, dass hohe Ziele nicht von heute auf morgen Wirklichkeit werden; wenn nach kurzer Zeit statt der überflüssigen Pfunde leider nur die Euphorie schwindet, weil der Alltagstrott alles überschattet. Viele machen jedoch nur diesen einen Schritt und (er-)warten dann, dass etwas Großartiges passiert.
Erwartungen können beflügeln – oder zu herben Enttäuschungen führen.
Schauen wir uns das Wort doch mal genauer an – was drückt Erwarten eigentlich aus? Das Präfix “Er-” kündigt den Beginn einer Handlung an: Ich werde mein Ziel er-reichen. Das Verb “warten” beschreibt die Ausführung: Bis ich mein Ziel erreicht habe, kann ich abwarten und muss nichts mehr dafür tun. Erwartungen können beflügeln – oder zu herben Enttäuschungen führen. Hoffnung ist eine positive aber passive Haltung; ohne Engagement bringt sie mich kein Stück weiter an mein Ziel. Wer vom Marathon unter drei Stunden träumt, in der Woche aber nur drei Stunden Zeit fürs Training aufbringen kann, muss sein Ziel niedriger oder sein Trainingspensum höher ansetzen.
Initiative ergreifen und selbst für die angestrebte Veränderung sorgen – doch wie findet man dabei für sich den richtigen Grad an Motivation?
Oftmals ist es schwer, die eigenen und die fremden Erwartungen auseinanderzuhalten. Wollen wir nicht aus freien Stücken all das, was die anderen wollen? Der Mensch ist ein soziales Wesen, möchte sich zugehörig fühlen und sucht Zustimmung von anderen. Also geben wir unser Bestes, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Das kann das Zusammenleben erleichtern, doch es ist unmöglich, es allen recht zu machen. Dazu sind wir Menschen einfach zu unterschiedlich. Auch können durch reine Vermutungen und fehlende Kommunikation falsche Erwartungen und vermeidbare Spannungen entstehen. Kommen die eigenen Bedürfnisse dauerhaft zu kurz, wird es ungesund.
Alles beginnt also mit der bewussten Entscheidung fürs Laufen. Ich tue es aus freien Stücken und idealerweise für mich selbst. Hinterfragen wir uns doch mal: Warum ist mir ein Marathon so wichtig? Spiegeln die Erwartungen meine Wünsche und Werte wieder? Sind es überhaupt meine eigenen Ziele und Erwartungen, oder habe ich sie nur, weil sie gerade in Mode sind oder mein*e Partner*in es gern möchte?
Erwartungen mit gezielter Trainingsplanung managen
Ich bin eine der Läufer*innen mit Leib und Seele. Machen wir uns zu einer Trainingseinheit oder einem Wettkampf auf, haben wir auch immer eine gewisse Vorstellung davon, wie das Ganze ablaufen soll, welche Strecke wir bewältigen und welches Tempo wir rennen. Vielleicht liebäugeln wir schon mit einer konkreten Platzierung. Doch auch wenn wir das Ziel von ganzem Herzen erreichen wollen – wer mit überzogenen Erwartungen startet, landet schnell in der Frust-Falle, verliert sein Ziel vielleicht sogar aus den Augen. Eine Orientierungshilfe bieten Wettkampfzeiten-Rechner; sie prognostizieren das Leistungspotential auf einer geplanten Laufdistanz anhand einer gelaufenen Zeit auf einer anderen Streckenlänge. Mittels einer Online-Eingabemaske trägt man die aktuelle Zeit auf beispielsweise fünf Kilometer ein, und heraus kommt die vermeintlich realistische Zielzeit für die Wunschdistanz, z.B. Marathon. Verlockend, aber immer mit Vorsicht zu genießen. Nur weil man die fünf Kilometer unter 20 Minuten läuft, heißt das nicht, dass man diese Geschwindigkeit über den gesamten Marathon halten kann. Trainings- und Wettkampferfolge lassen sich nur mit einer gezielten und periodisierten Trainingsplanung erreichen.
Das erste Tief überwindet man am besten, indem man sich genug Spielraum gibt, um die Ziele zu justieren und nach und nach zu steigern. Visualisieren wir unsere Erwartungen. Wie würden sie in Form von Taten aussehen? Bin ich bereit, den nächsten und noch viele weitere Schritte dafür zu gehen? Das erfordert nicht nur Mut, Selbstdisziplin, Geduld und Fleiß, sondern auch lange Läufe und Intervalle.
Vorbilder sind hilfreich, wenn sie uns inspirieren. Doch der unrealistische Vergleich mit anderen Läufer*innen kann uns auch blockieren.
Wir haben immer mehr Möglichkeiten – und dadurch auch immer mehr Unsicherheiten. Man kann fast jederzeit buchstäblich tun und lassen, was man will. Und die sozialen Medien suggerieren gern, dass das Gras woanders grüner ist bzw. die anderen höher, schneller und viel weiter laufen als wir – und dabei noch blendend aussehen. Gefangen in einer Welt der Selbstvermarktung lassen wir außer Acht, dass oft die Voraussetzungen komplett unterschiedlich sind: anderes Umfeld, anderes Trainingspensum, andere Erfahrung und vieles mehr. Es ist immer ein Gesamtpaket, das dazu beiträgt, Leistungen abzurufen. Vergleichen wir lieber rational, nüchtern und ehrlich mit uns selbst. Unterziehen wir unsere Erwartungen einem Realitätscheck: Was ist möglich und was (noch) nicht? In welchem Punkt will ich mich weiterentwickeln? Was fehlt mir gerade noch, um auf die nächste Stufe zu kommen? Dann beginnt die Selbstverwirklichung.
Positive Erwartungen sind verbunden mit Wohlbefinden.
Vorfreude, Begeisterung. Endorphine, die körpereigenen “Glücksstoffe”, werden freigesetzt, wenn wir eine positive Erwartung haben. Wir sind leistungsfähiger, wenn wir Dinge mit Freude machen. Unser Bedürfnis, Leistung zu erbringen, ist stets auch gekoppelt an ein persönliches Anspruchsniveau. Hohe Erwartungen sind gut und wichtig, um im Sport erfolgreich zu sein. Schon die Basketball-Legende Michael Jordan wusste: “You must expect great things of yourself before you can do them.” Du musst großartige Dinge von dir erwarten, bevor du sie erreichen kannst. Ohne subjektiv bedeutungsvolle und herausfordernde Zielsetzungen fehlt nicht nur die Motivation, auch lässt sich ein Handlungs-, also Trainings- bzw. Wettkampfergebnis schlicht nicht bewerten.
Es muss nicht alles perfekt sein.
Das Streben im Kopf nach Verbesserung ist eine wichtige Erfolgseigenschaft. Doch Perfektion ist unfair, da sie nie erfüllt werden kann. Mit der Erwartung von Perfektion blockieren wir uns selbst, sie ist ein Hauptgrund für Unzufriedenheit. Scheuen wir uns davor, weiterzumachen oder überhaupt anzufangen, aus Angst, wir könnten es nicht gut genug machen, hält der innere Kritiker unsere sportliche Entwicklung nur auf, sorgt für Stillstand und Rückschritt. “Es könnte aber noch besser sein.” Das Verlangen nach dem perfekten Rennen ist sinnlos, denn den perfekten Wettkampf gibt es nicht. Konzentrieren wir uns auf das, was wir kontrollieren können, und akzeptieren wir Fehler und Schwächen als Teil des Wachstumsprozesses. Lernen wir aus Niederlagen und machen sie dadurch zu Triebfedern für den nächsten Erfolg. Beim Ultralauf sagt man, es geht nicht darum, ob etwas schief geht, sondern wann.
Die Konzentration auf das „Hier und Jetzt“ kann helfen, unproduktiven Erwartungsdruck abzubauen.
Erwartungen zu reduzieren, heißt nicht gleichgültig zu werden, sondern zu lernen, etwas nicht als selbstverständlich zu betrachten. Lösen wir uns an Tagen, an denen wir ohnehin schon gestresst sind, von allzu hohen Erwartungen und schaffen wir mit dem Laufen ein Gegengewicht zum Leistungsdruck des Arbeitsalltags. Der straffe Trainingsplan darf ruhig einmal gelockert werden und so die Möglichkeit bieten, die Laufstrecke entspannt zu erleben: Wie fühlt sich der Waldboden nach einem Regen an? Wie riecht es? Sind Tiere zu sehen? Welche Geräusche nehmen wir wahr?
Das ist nicht immer leicht, und vor allem im Leistungssport ist es von nöten, mit Drucksituationen umgehen zu können und neben den eigenen auch Fremderwartungen (von Medien, Funktionären und Sponsoren) zu erfüllen. Dabei kann ein Athlet eine Leistungssituation zum einen als „Druck“ im Sinne einer Bedrohung, oder im positiven Sinne als Herausforderung empfinden.
Wie wäre es, wenn wir “perfekt” hin zu “bestmöglich” verändern?
Geben wir uns mehr Spielraum, indem wir versuchen, in jeder Trainingseinheit das Bestmögliche zu leisten. “Bestmöglich” kann man immer erreichen, egal an welchem Tag, egal in welcher Form. Perfektion nicht.
Je öfter ich erlebe, dass ich durch eigene Anstrengungen ein Ziel erreiche, halte ich mich auch in Zukunft für fähig, Herausforderungen durch eigene Kompetenz bewältigen beziehungsweise Leistungen abrufen zu können. Diesen Mut zur eigenen Leistung nennt man Selbstwirksamkeitserwartung, und die “Ich kann”-Überzeugung ist eine wichtige Voraussetzung für gute Leistungen.
Welch große Macht Erwartungen über den Menschen haben können, zeigt sich auch am Placebo-Effekt: Jemandem wird ein Placebo, ein arzneimittelloses Präparat, verabreicht. Die Person weiß aber nicht, dass das Medikament gar keinen Wirkstoff enthält. Im festen Glauben an die medizinische Maßnahme bessert sich seine Krankheit tatsächlich. Nicht das Placebo selbst hat gewirkt; die geheimnisvolle, treibende Kraft war die positive Behandlungserwartung des Patienten. Wer es glaubt, wird gesund. Eine Mutter nutzt das instinktiv, wenn sie bei ihrem Kind den Schmerz „wegpustet“. Noch ein Beispiel für die Kraft der Gedanken: Du rackerst dich mürrisch mit Intervallen auf der Bahn ab und denkst, dass sich der ganze Aufwand sowieso nicht lohnt? Dann wird das Training tatsächlich eine mühsame Tortur sein. Wer sich selbst auf Misserfolg programmiert hat, macht ihn damit wahrscheinlicher. Die eigene Einstellung, die eigenen Erwartungen, können das Ergebnis einer Situation direkt beeinflussen.
Sind es vielleicht sogar die eigenen Glaubenssätze, die daran Schuld sind, dass wir Erwartungen nicht erfüllen können? Selbstgesteckte Limitierungen wie “Ich bin einfach kein(e) Langstreckenläufer*in. / Ich habe einfach keine Ausdauer. / Das war noch nie meine Stärke.” sind Blockaden, die in unseren Köpfen sind. Gewinnen wir die mentale Freiheit zurück und hinterfragen diese Grenzen im Kopf, holen uns ggf. externe Hilfe und Zuspruch von Menschen, die unsere läuferischen Fähigkeiten gut einschätzen können.
Erwartungen sind immer Interpretationen von bestimmten Situationen, Vorstellungen, wie etwas sein könnte.
Auch Konsumentscheidungen sind mit Vorstellungen vom zukünftigen Leben mit dem zu kaufenden Produkt verbunden. In Urlaubskatalogen, Filmtrailern oder Produktpräsentationen werden die Motive für Kaufentscheidungen als vorweggenommene Zukunft präsentiert, mit glaubwürdigen Geschichten.
Melden wir uns zu einem Wettkampf an, haben wir vielleicht schon von der hohen organisatorischen Qualität, der erstklassigen Verpflegung und dem einmaligen Zieleinlauf gehört und wählen das Event anhand dieser Kriterien aus. Wir erwarten, dass die Streckenführung die Stadt bzw. die kulturelle Vielfalt der Region repräsentiert und das touristische Angebot unsere Reise perfekt abrundet. Wurden unsere Erwartungen an das ganze Drumherum erfüllt, nehmen wir positive Erinnerungen mit nach Hause.
Doch äußere Umstände sind selten kontrollierbar. Die Wetterverhältnisse, die Form der sportlichen Konkurrenz, die Zeitmessung, die Reaktion vom Publikum und vieles mehr. Es gilt, Erwartungen, deren Erfüllung hauptsächlich von äußeren Faktoren abhängig ist, zu unterscheiden von Erwartungen, zu deren Erfüllung wir selbst etwas beitragen können. Wir haben einen Handlungsbereich. Lenken wir unsere Kräfte auf die Aspekte, auf die wir Einfluss nehmen können. Für meine eigene Leistung kann nur ich was, nicht die Rennleitung. Ein Event ist nicht pauschal schlecht, nur weil ich nicht aufs Treppchen kam.
Fixiert und abhängig von der Erwartung bewerten wir neue Erlebnisse oft nach dem alten Muster – das Denken in Schubladen ist die Enge der Erwartung. Wir sind sehr schnell mit dem Bilden einer Meinung. Wir treffen Menschen oder erleben Situationen, die uns bekannt vorkommen, und schon ist unser Urteil gefällt. Wir “wissen”, was wir zu erwarten haben – schade eigentlich und irgendwie unfair, das was ist zu reduzieren, auf das was in der Erwartung erwartet wird. Ein Synonym für Erwartung ist “Möglichkeit”. Ist eine Erwartung vielleicht nur eine Möglichkeit von vielen?
Ungeahnte Möglichkeiten liegen jenseits von Erwartungen.
Ein Knalleffekt, der Paukenschlag, was für eine Überraschung! Die besten Ideen kommen nicht am Schreibtisch. Die besten Partys entstehen spontan.
Öffnen wir unseren Blick und Geist immer wieder für Neues. Akzeptieren und respektieren wir unser Gegenüber doch so, wie es ist. Getreu dem Motto “erstens kommt es anders und zweitens als man denkt”. Also weg mit den Erwartungen? Nicht ganz. Erwartungen können sinnstiftend wirken, uns eine Richtung geben und ein Ansporn sein, aber nur, wenn wir eine gute Balance zwischen den eigenen Erwartungen und den Realitäten finden.
Bleiben wir neugierig und gestalten das Leben aktiv und authentisch.
Warten wir nicht darauf “Wenn endlich dieser Arbeitstag/das Projekt/die Corona-Pandemie vorbei ist, kann ich wieder glücklich sein.” Sehen wir unerfüllte Erwartungen als Lehrer des Lebens, Hindernisse als Wegweiser.
Wenn das Leben und das Laufen mal wieder anders spielt, als gedacht, dann lasst uns nicht enttäuscht, sondern neugierig sein. Schließlich wollen wir das Leben er-leben, anstatt zu er-warten. Und Tag für Tag Ziele bestmöglich er-reichen und er-laufen.
Diesen Artikel habe ich für die LAUFZEIT Ausgabe 2/2021 geschrieben, wo er am 10.02.2021 als Titel-Story zuerst erschienen ist: https://www.instagram.com/p/CLCPbD1nHty/
Die Fotos sind bei einem Shooting mit Florian Kurrasch entstanden.
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